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Stuttgarter Zeitung vom 28.05.2005

Von einer, die auszog, das Leben in Bosnien zu lernen

Ingrid Halbritter aus Echterdingen ist seit fast sieben Jahren auf dem Balkan unterwegs, um Lehrer auszubilden - "ihre" Familie hat sie dort auch gefunden

Bosnien ist für Ingrid Halbritter zur zweiten Heimat geworden. Die Sprache hat sie schnell gelernt. Nicht so einfach ist es gewesen, die kulturellen Konflikte der Bevölkerungsgruppen zu begreifen.


Von Julia Schneider

Manchmal riecht Armut nach Mäusepipi. Und verbirgt sich in der Altstadt von Sarajewo, in einem dunklen Eingang neben einem Blumengeschäft, wo im Winter bei minus fünfzehn Grad Kinderwäsche auf Schnüren und Leitern trocknet, hinter einer Holztür, die einen fingerdicken Spalt lässt zwischen sich und der Zarge, hinter Fensterrahmen, die statt Glas nur Pappe umschließen, hinter einem Vorhang, der den Flur mit den Kleiderregalen und dem alten Herd von dem einzigen Zimmer trennt, in dem sieben Kinder schlafen und im Winter tagsüber in ihren von Mäusen angenagten Skianzügen vor dem Fernsehgerät sitzen.

Vor fast zehn Jahren ging der Krieg in Bosnien zu Ende. Doch für die Menschen in dem Balkanland geht das Kämpfen weiter. In den fast sieben Jahren, in denen Ingrid Halbritter aus Echterdingen in Bosnien lebt, hat sie dort viele Menschen getroffen: zurückgekehrte Kriegsflüchtlinge, die ihr Zuhause verloren haben. Oder ältere Frauen mit drei kleinen Jobs, die es sich trotzdem nicht leisten können, auch nur ein paar Lebensmittel auf Vorrat zu kaufen. Aber Menschen, die fast wie Tiere hausen - das hatte sie noch nicht gesehen. Seit sie im vergangenen Sommer den Keller von Bisera M. und ihren Kinder erstmals betrat, besucht sie die bosnische Familie nun mehrmals pro Woche. Die alleinerziehende 29-jährige Bisera ist eine Freundin geworden. Ingrid Halbritter plaudert mit ihr und knuddelt die Kinder. Sie hat der Familie eine Kloschüssel und einen Boiler besorgt, zwackt etwas von ihrem Gehalt ab, wenn ein Schulausflug ansteht, keine Windeln mehr für die einjährige Rasema da sind oder wenn Bisera mal wieder nichts hat, was sie ihren Kinder kochen kann.

Zwei Jahre nach dem Daytoner Friedensabkommen von 1995 kam Ingrid Halbritter das erste Mal nach Bosnien - als Pressesprecherin für den Stuttgarter Verein Kinderberg, der im kriegszerstörten Land humanitäre Hilfe leistete. "Damals war nichts normal", sagt sie. Das Land war geteilt - nach dem letzten Frontverlauf in die Serbische Republik und die kroatisch-muslimische Konföderation. Man hatte viele Straßen wegen der neuen Grenzen umgelegt, Brücken lagen in Trümmern, überall fuhren SFOR-Konvois, Mobilfunknetze und direkte Telefonverbindungen zwischen den Landesteilen fehlten.

"Niemand ahnte, dass sich dieser Zustand mal ändern würde." In einer Zeit, als auch in Deutschland erst wenige das Internet nutzten, erkannte die heute 39-Jährige darin die Chance für das zerrissene Bosnien: Sie beschaffte Computer und Telefonkabel und ließ sie in kroatischen, serbischen und bosnisch-muslimischen Schulen verlegen. "Bosnienkids online" ermöglicht seither Jugendlichen, sich über die Landesteile hinweg auszutauschen, weitere Friedensprojekte folgten.

Doch als die Nato 1998 den Kosovo bombardiert, hat niemand mehr Geld für politische Bildung in Bosnien übrig. Halbritter bleibt im Land, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll, mit ihr und ihrer Vision: Die Politikwissenschaftlerin will Lehrer ausbilden, die wiederum ihren Schülern Menschenrechte, politische Parteien oder die Europäische Union näher bringen sollen. Ihr Wohnzimmer in Sarajewo wird zum Büro, nächtelang sitzt sie am Schreibtisch und schreibt Anträge. Die Suche nach Geldgebern zieht sich hin, denn Bosnien gerät im übrigen Europa in Vergessenheit.

Als Ingrid Halbritter das erste Geld von der Unesco bekommt, fängt die Arbeit gerade erst an. Sie muss skeptische Schuldirektoren überzeugen, ihre Mitarbeiter immer wieder motivieren, und wenn während der Lehrerfortbildungen plötzlich Licht und Computer ausgehen, zieht sie mit dem Benzinkanister los, um den Stromgenerator wieder zum Laufen zu bringen. Drei Jahre lang arbeitet sie zwölf bis vierzehn Stunden täglich, sie lebt aus dem Koffer und düst mit ihrem alten Opel oder in den Flugzeugen von Nato und Bundeswehr über den Balkan. Die Früchte ihrer Arbeit bündeln sich in einer einzigen Zahl, die sie genau im Kopf hat: 2183 Lehrer haben sie und ihre Kollegen bisher ausgebildet - in Bosnien, Kosovo, Kroatien, Albanien, Bulgarien, Serbien, Montenegro und Rumänien. Im vergangenen November zeichnete die Unesco ihren Bildungsserver für Demokratie und Menschenrechte aus.

Bosnien ist für Halbritter zur zweiten Heimat geworden, die Sprache hat sie nebenher gelernt. Länger hat sie dagegen gebraucht, um die subtilen Konflikte zwischen den Menschen wahrzunehmen, wie sie sagt. "Ein bosnischer Serbe kann Sehnsucht nach Sarajewo haben. Doch wenn er dort in einen muslimisch-bosnischen Haushalt kommt, fühlt er sich erst mal unwohl. Er weiß, seine Landsleute wollten die Stadt in Schutt und Asche bomben, und antizipiert, der bosnische Muslim denke, er trage eine Mitschuld."

Wo kommst du her? Warst du weg im Krieg? Wo warst du? Was hast du gemacht? Halbritter hat gelernt, dass das in Bosnien viel zählt und dass Freiheit für die Menschen bedeutet, unter ihresgleichen zu leben. Sie hat lange gebraucht, um zu verstehen, dass selbst der Nachname ein Statement für die Vergangenheit ist. Bosnischer Muslim, Serbe oder Kroate - eine Buchstabenkombination verrät, wer wo hingehört. Umso mehr empfindet sie es als ungerecht, wenn vermeintlich gut informierte Bekannte in Deutschland zu wissen meinen, wie Bosnien und der Balkan funktionieren. "Es ist zu einfach, zu sagen: Das Land ist politisch geteilt, und die Leute können sich nicht leiden."

Die Jahre der 14-Stunden-Tage sind vorbei. Doch freie Zeit nimmt sich Ingrid Halbritter auch jetzt nicht häufig. "Wenn Privatleben heißt, ins Kino oder essen gehen oder Freunde treffen, das mache ich schon - aber selten", sagt die kleine ernste Frau mit den kurzen braunen Haaren. Sie wohnt über ihrem Büro in einer gemütlichen Dachwohnung auf den Hügeln von Sarajewo, blickt hinab auf die türkische Altstadt, von der aus sich die riesigen muslimischen Friedhöfe bis hoch zu den letzten Häusern erstrecken. Halbritter raucht selbst gedrehte Zigaretten, vor ihr auf dem Tisch ein Strauß Mimosen, wie sie in Sarajewo gerade überall verkauft werden. Manchmal denkt sie, dass sie in Bosnien nicht normal leben kann. "Weil ich nicht mit den Menschen zusammen sein kann, die ich wirklich gerne mag." In Bosnien hat Halbritter viele Freunde gewonnen - und wieder verloren. Denn die Ausländer, die für internationale Organisationen arbeiten, gehen nach spätestens drei Jahren wieder. Und dann bricht der Kontakt in der Regel ab.

Weil Ingrid Halbritter das weiß, lässt sie sich nicht mehr so schnell auf neue Freunde ein. "Für meine Arbeit hier zahle ich den Preis, dass ich manchmal ganz schön einsam bin." Doch zurück nach Deutschland zu gehen - das war für sie nie eine echte Möglichkeit. Sie weiß, dass das Bildungsprojekt dann zum Stillstand kommen würde. Eine eigene Familie hat sie nicht gegründet, doch seit letztem Sommer in Bisera und ihren Kindern eine gefunden. "Ich glaube, ich musste die einfach treffen", sagt Halbritter. Um die Familie auch langfristig zu unterstützen, sucht sie jetzt in Deutschland nach Paten für Menschen wie Bisera, die anderthalb Flugstunden von Stuttgart entfernt nicht wissen, was sie morgen essen werden. Dazu hat sie jüngst Pharos gegründet, einen Verein für humanitäre Hilfe. "Auch wegen meiner neuen Familie kann ich jetzt nicht wieder nach Deutschland gehen", sagt Ingrid Halbritter. "Es gibt hier noch so viel zu tun."

Informationen zum Bildungsserver: www.dadalos.org; Informationen zum Patenkreis: ingrid.halbritter@dadalos.org


© 2005 Stuttgarter Zeitung

Wir bedanken uns bei Autorin und Zeitung für die freundliche Genehmigung zur Verwendung dieses Artikels.


   
               
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